Permanente Installation in der Bibliothek des Museum Haus Konstruktiv
Seit François Morellet (1926, Cholet, FR – 2016, ebd.) sich 1951 – auch unter dem Einfluss von Max Bill – der konkreten Kunst zugewandt hat, erweist er sich als einer ihrer unorthodoxesten Vertreter: In seinem Werk, das die Medien Malerei, Zeichnung, Druckgrafik, Objekt, Plastik, Installation und Intervention umfasst, treffen stets der konzise Methodiker und der allen Konventionen abgeneigte Freigeist zusammen.
Nach ersten repetitiv angelegten Bänder- und Streifenstrukturen zeichnete sich die weitere Werkentwicklung ab 1958 unter dem Signum sich periodisch erneuernder Programme ab, die Morellet als «règles du jeu», als Spielregeln bezeichnet. Sie dienen dazu, das Feld von Vorhersehbarkeit und Unvorhersehbarkeit, von Ordnung und Chaos zu untersuchen und Abstand zu nehmen von der als antiquiert betrachteten Rolle des Künstlers als Schöpfergenius. Ihre erste konsequente Anwendung finden sie in den ab 1958 aufgenommenen «trames» [Rastern]. Es sind dies Überlagerungen von mehreren parallelen Linienzügen, die um jeweils vorgängig festgesetzte Winkelgrade zueinander verschoben wurden und oft interferierende Gitterstrukturen zeigen. «Ohne Titel (Grillage)» von 1965, das Mappenwerk «Trames» von 1966 oder die «3 simples trames 0° – 30° – 90°» von 1966 sind dafür beispielhaft. Eine zweite, seit 1960 kontinuierlich verfolgte Spielregel kommt in der Zuhilfenahme des programmierten Zufalls zum Zug. Basis ist jeweils ein zuvor definiertes Ordnungssystem (etwa die Festlegung des Bildformats sowie der Anzahl, Farbe und Form der Elemente), welches sodann mit einer durch den Zufall generierten Struktur «gefüllt» wird.
Das bekannteste Beispiel hierfür ist die von der Malerei auf die Druckgrafik erweiterte Werkserie der «40.000 Quadrate» (Mappenwerk «40.000 carrés», 1960–1971), deren binäres Farbsystem auf dem Ablesen der gerade bzw. ungerade endenden Nummern aus einem Telefonbuch beruht. Interessiert an Fragen der Interaktion und Perzeption, war Morellet 1960 Mitbegründer der GRAV – Groupe de Recherche d’Art Visuel, deren Fokus auf der Erforschung von Wahrnehmungsprozessen lag. In der Folge beschäftigte er sich ausführlich mit kinetischen, über Zufallsgeneratoren gesteuerten Neoninstallationen und begann, – ebenfalls mittels Zufallsprinzip – Wände oder ganze Räume mit gitterartigen Strukturen aus schwarzem Klebeband zu überziehen («Without Serious Reflection», 2002, Installation in der Bibliothek des Museum Haus Konstruktiv). Ab den 1980er-Jahren wandte sich Morellet unter Anwendung neuer «Spielregeln» wieder vermehrt dem Objekt zu (u.a. mit den Werkfolgen «Relâches», «Geometrees» oder «Steel Lifes»), mehrheitlich im Mixed-Media-Verfahren. Fasziniert von der irrationalen Kreiszahl π begann er im Laufe der 1990er-Jahre, deren unendlich fortlaufenden Nachkommastellen nachzugehen und diese in unterschiedlichsten Medien, etwa in Form Wand füllender Zeichnungen, zur Wahrnehmung zu bringen.
Mit der unvergleichlichen Kombination von Reduktionismus, Methodik und Spiel hat Morellet, nach seinen eigenen Worten das «monströse Kind von Mondrian und Picabia», der konkreten Kunst ein zukunftweisendes Kapitel hinzugefügt. Ob man ihn als Vorgänger oder als Mitbestreiter der Postmoderne betrachtet: Sein Werk bleibt eine nie versiegende Inspirationsquelle.