Die britische Künstlerin Marlow Moss (geb. 1889 in Kilburn, London, gest. 1958 in Penzance, Cornwall) ist eine der wenigen Vertreterinnen konstruktiver Kunst der ersten Stunde. Als Rebellin gegen tradierte Kunst- und Geschlechtervorstellungen legt sie 1919 ihren weiblichen Taufnamen Marjorie Jewel ab und nennt sich fortan Marlow, sie schneidet ihre Haare kurz und beginnt, vorzugsweise Reiterhose und Hemd zu tragen. Ihre Kunst orientiert sich in den Anfängen an Piet Mondrians Neoplastizismus, den sie jedoch auf eigenständige Weise erweitert und in Reliefs und Skulpturen überführt. Zu ihren wichtigsten Erfindungen zählt die sogenannte Doppellinie, ein dynamisierendes Kompositionselement aus zwei dünnen, parallel verlaufenden Linien, die sie erstmals 1930 in ihrer Malerei einsetzt. Mondrian greift dieses Element für seine eigenen Kompositionen auf, ohne jedoch auf Moss als Urheberin zu verweisen.
Die Ausstellung möchte auf das Œuvre von Marlow Moss, das allzu lang im Schatten der berühmten männlichen Konstruktivisten stand, aufmerksam machen und zu seiner tiefergehenden kunsthistorischen Rezeption anregen.
9.2.–7.5.2017
kuratiert von Lucy Howarth und Sabine Schaschl
Von 1916 bis 1917 besucht Marlow Moss in London die St. John’s Wood School of Art und anschliessend die Slade School of Fine Art, die sie wegen der konventionellen, am Naturalismus orientierten Kunstausbildung verlässt. Sie zieht sich 1919 für einige Jahre nach Cornwall zurück, befasst sich u.a. intensiv mit Marie Curie und zerstört, nach ihren eigenen Worten, ihre alte Persönlichkeit, um eine neue zu kreieren. 1927 zieht sie nach Paris, wo sie an der Académie Moderne bei Fernand Léger und Amedée Ozenfant studiert. In Paris begegnet sie zum ersten Mal den neoplastizistischen Malereien Piet Mondrians – ein Schlüsselmoment, der für ihre weitere künstlerische Entwicklung wegweisend sein wird. Anfang der 1930er Jahre sind ihre Gemälde jenen Mondrians zum Verwechseln ähnlich: Auch Moss verwendet nun ausschliesslich die Primärfarben Rot, Gelb und Blau sowie die Nichtfarben Weiss und Schwarz, um ein Gerüst aus geraden Linien und rektangulären Farbflächen aufzubauen. Nach und nach entwickelt sie hieraus ihren eigenen Stil. 1929 lernt sie Mondrian persönlich kennen. Auch mit Georges Vantongerloo und Jean Gorin steht Moss in regem Austausch, gehört sie doch wie diese 1931 zu den Mitbegründern der Künstlervereinigung Abstraction-Création. Die erste Begegnung mit Max Bill findet 1933 in den Galerieräumen dieser Vereinigung statt. Moss ist darüber hinaus in Paris in den Künstlergruppen Les Surindépendants, Groupe Anglo-Americain, Association 1940 und im Salon des Réalités Nouvelles aktiv. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges verlässt sie gemeinsam mit ihrer Partnerin, der holländischen Schriftstellerin Antoinette Hendrika (Netty) Nijhoff, ihr Domizil in Gauciel (Normandie) und flieht nach Holland. Doch auch dort sind die Zeiten für sie als Jüdin zu unsicher, sodass sie im Mai 1940 erneut – und diesmal endgültig – in einem Fischerboot nach England flüchtet und sich in Lamorna in Cornwall niederlässt. Bei einem Bombardement 1944 werden sämtliche in Gauciel gelagerten Werke zerstört.
Für die Konzeption ihrer aus zahlreichen dünnen Farbschichten aufgebauten Malereien fertigte Moss präzise Skizzen an. Dabei orientierte sie sich an mathematischen Schemata, die sie durch die Schriften des Mathematikers Matila Ghyka kennengelernt hatte. Wie Mondrian strukturierte auch Moss ihre Werke mithilfe schwarzer Kompositionslinien, im Gegensatz zu dessen intuitiver Vorgehensweise aber ging sie von mathematischen Prinzipien aus und suchte nach Möglichkeiten, die schwarzen Kompositionslinien zu überwinden. In manchen Werken ersetzte sie diese durch Kordeln oder Seile, die sie weiss übermalte. Später kommen in ihren Reliefs auch weiss bemalte Holzleisten vor. Ihre ab den frühen 1940er Jahren entstandenen Drahtskulpturen können als räumliche Erweiterungen der schwarzen Kompositionslinien betrachtet werden. In den Jahren 1956 bis 1958 entwickelte Moss Farbfeldmalereien ohne schwarzes Liniengerüst. Im Zentrum ihres künstlerischen Schaffens stand das Bestreben, aus der Bildbegrenzung auszubrechen. Raum und Licht bildeten somit zwei wesentliche Komponenten in ihrem Werkverständnis.
Die wichtigsten Ausstellungen von bzw. zu Marlow Moss fanden in folgenden Institutionen statt: Kunsthalle Basel (1937); Hanover Gallery, London (1953 und 1958); Stedelijk Museum, Amsterdam (1938/1962); Middelburg Town Hall (1972); Jerwood Gallery, Hastings (2013); Tate St Ives (2013), Leeds Art Gallery (2014); Tate Britain, London (2014).
Zur Ausstellung im Museum Haus Konstruktiv erscheint eine umfangreiche Monografie (d/e) mit Textbeiträgen von Lucy Howarth, Ankie de Jongh-Vermeulen und Sabine Schaschl.
Ermöglicht durch Art Mentor Foundation Lucerne
Weitere Unterstützung durch
Stanley Thomas Johnson Stiftung
Georges und Jenny Bloch-Stiftung
Museum Haus Konstruktiv wird unterstützt von seinen Gönner:innen, Mitgliedern und