Der Ursprung jeder Zeichnung ist die Linie. So enthielt denn auch die 1930 von Theo van Doesburg formulierte Definition der konkreten Kunst den klaren Hinweis auf die Linie, die Fläche und die Farbe als die wirklichsten und konkretesten Elemente der Kunst. Dieser postulierten Reduktion entsprechen auch die Werke von Daniel Göttin (1959, Basel, CH) und machen ihn so zu einem der Vertreter einer neuen Generation der konkreten Kunst. Exemplarisch für dieses Erbe sind seine Wandarbeiten im Haus Konstruktiv – die fünf einzelnen Holzleisten etwa, die in verschiedenen Farben parallel zueinander als einfache Linien angeordnet werden können, aber auch zwei MDF-Platten, die, je unterschiedlich gefärbt, eine Art verzogenes Trapez darstellen. Die Holzleisten sind nicht betitelt, dafür durchnummeriert von I–VI, wobei die II abhandengekommen scheint – ganz im Geiste der nicht zu benennenden Gegenstandslosigkeit. Geht man die dazugehörenden Werkbeschreibungen weiter durch, fallen Farbbezeichnungen auf, die zwischen Schwarzbraun, Gelbocker und Hellgrüngrau changieren. Farbmischungen, die von den strengen Konkreten der ersten Stunde nicht verwendet worden wären, bediente sich doch beispielsweise ein Künstler wie Piet Mondrian, der zur Vorgänger-Bewegung De Stijl gehörte, programmatisch nur der drei Grundfarben Rot, Blau und Gelb. Göttin orientiert sich zwar am konkreten Erbe, ist aber kein regeltreuer Anhänger.
Seine installative Kunst beweist ebenfalls die Eigenständigkeit seiner künstlerischen Position. Die Tatsache, dass sich unsere Umgebung – und so auch der museale Raum – auf uns Menschen auswirkt, ist bekannt. Viele Künstler nutzten dieses Wissen dazu, uns mit ihrer Kunst den Raum neu wahrnehmen zu lassen, aber erreicht werden soll dies, indem das Hauptaugenmerk auf die Kunst im Raum gerichtet wird – wir sehen den Raum als Erweiterung des Werkes. Nicht so Göttin: Für ihn sind seine Werke nicht im Raum, sondern es sind Werke mit dem Raum (Andreas Baur). Die leeren Flächen eines Raumes sind genauso integraler Bestandteil seiner Arbeit wie die farbigen Holzleisten, die die Leere zwischen ihnen akzentuieren. Der Raum als solches ist für ihn bereits das Kunstwerk, und er liefert uns mit seinen Installationen oder Wandarbeiten ein Kunstwerk im Kunstwerk.
Linda Christinger