Ingrid Isermann

Die Kulturjournalistin, Lyrikerin und Sprachkünstlerin Ingrid Isermann (1943, Hamburg, DE) ist u.a. Herausgeberin des Web-Kultur-Magazins «Literatur&Kunst» sowie Initiantin des «Ersten Zürcher Lyrik-Preises «Literatur&Kunst» 2012. Ihre Arbeit als bildende Künstlerin ist der visuellen Poesie gewidmet: Sie schreibt in farbenfrohen Bildern, verdichtet und intensiviert Worte und Wortbedeutungen, betont Format und Schriftart. In einem Bild zerlegt sie das Wort «viel/leicht» und verkehrt «leicht» durch eine fette Schrift ins Gegenteil. In einem anderen Bild spielt sie das Wort «Anima» in farblich verschiedenen Bändern durch. Hier ist die Wiederholung ein wichtiges Element – wie häufig in der Poesie, kann doch damit eine Aussage verstärkt oder ein neuer Sinn geschaffen werden. Manchmal lässt Ingrid Isermann die Buchstaben tanzen, stellt sie hoch oder tief und schafft so ein schillerndes Muster. Dies zeigen die beiden Lithografien «ASK WHY ASK WHY ASK WHY», zehnmal wiederholt in je einer neuen Linie, mit pinkfarbenen Buchstaben mal auf grünem, mal auf violettem Grund. Dabei wird der Akzent bald auf «Ask why», bald auf «Why ask» gesetzt. «Anatomie der Worte» nennt Isermann diese Verfahren nach ihrer gleichnamigen, 2014 erschienenen Publikation.
Sie löst Wörter, Buchstaben oder Satzzeichen aus dem Zusammenhang der Sprache heraus und verwendet die phonetischen, visuellen und akustischen Dimensionen als literarisches Mittel. Die Sprache dient nicht mehr der Beschreibung eines Sachverhalts, eines Gedankens oder einer Stimmung, sondern sie stellt sich selbst dar; auch mit dem Mittel der Gestaltung. Damit steht Isermann in der Nachfolge von Eugen Gomringer, der in den 1950er-Jahren den Begriff der «Konkreten Poesie» in Analogie zum Begriff der «Konkreten Kunst» prägte. Die entscheidende poetische Tätigkeit ist dabei die Konstruktion, die neuartige Zusammensetzung der einzelnen Sprachelemente. Gomringer nennt seine Gedichte «Konstellationen», die er für die einfachsten Gestaltungsmöglichkeiten der Dichtung hält. Mit der grafischen Anordnung des Textes soll seine inhaltliche Bedeutung unterstrichen oder ironisiert werden.
Gomringer würdigt die Arbeit von Ingrid Isermann folgendermassen: «Ingrid Isermann versteht das grosse Spiel der visuellen Poesie. Sie kurvt bisweilen scharf um Legendäres dieser Gattung herum, bringt aber als Anatomin gutes Neues zutage […] wortwitz- und netzwerkbewaffnet hebt sich diese Dichterin auf das konkrete Podest.» (1)
Die hier beschriebenen Prinzipien beider Künstler sind auch eine Reaktion auf die Reduzierung von Sprache in einem durch schnelle Kommunikation geprägten 20. Jahrhundert.

Dominique von Burg

(1) Eugen Gomringer, «Visuelle Konkrete Poesie in Fortsetzung», in: Ingrid Isermann, «Die Anatomie der Worte», Wolfsberg Verlag 2014, S. 11.
Werke von Ingrid Isermann