1994 und 1995 realisierte Michael Riedel (1972, Rüsselsheim, DE) unter dem Titel «Signetische Zeichnung» einen frühen programmatischen Werkkomplex, der über 1000 Blätter umfasst. Den Ausgangspunkt des Konvoluts bildet der Anfangsbuchstabe von Riedels Vorname, das M, das er mit Stempel und Goldfarbe in einem schmuckvollen Signet stilisierte. Mittels Achsenverschiebungen, Drehungen, Streckungen und Stauchungen wird die ursprüngliche Form in konstruktiver und zugleich überbordender Manier Blatt für Blatt weiterverarbeitet, teilweise in Wachsbüchern zusammenfasst und mit leerem, noch zu bearbeitendem Papiermaterial ergänzt. Potenziell unendlich fortsetzbar, spielt das kühne Frühwerk mit der Idee eines sich selbst fortschreibenden Systems in der Kunst, ein Ansatz, mit dem Riedel in den folgenden Jahrzehnten bekannt werden sollte.
Riedel, der von 1994 bis 2000 in Düsseldorf, Frankfurt am Main und Paris Kunst studiert hat und seit 2017 Professor für Malerei an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig ist, wendet seine Strategien der Aneignung, Übertragung und Wiederholung mit einem Fokus auf Kunst vermittelnde Instrumente wie Plakate, Einladungskarten, Ausstellungskataloge oder Kunstmagazine an. Wenn er sie nach bestimmten Prinzipien bearbeitet und ihre Funktion damit systemimmanent unterwandert und erweitert, entstehen neue Verästelungen in einem selbstreferenziellen Komplex, der neben bereits bestehenden Werken immer auch möglicherweise noch zu realisierende Arbeiten miteinschliesst.
Einen solch dichten und offenen Produktionsprozess hat beispielsweise die Arbeit «Ohne Titel (fünf eins sechs sieben neun elf zwei)» von 2014 durchlaufen. Sie besteht aus einem Set von 14 Postern, das beliebig oft vervielfältigt werden kann und ortsspezifisch als Boden- und/oder Wandarbeit präsentiert wird. Darauf abgedruckt ist ein komplettes Transkript von Gesprächen, die 2003 während eines Ausstellungsaufbaus in der Wiener Secession geführt wurden. Riedel realisierte dort einen Nachbau des Kunstraums «Oskar-von-Miller Strasse 16», den er im Jahr 2000 in Frankfurt mitbegründet hatte. Prinzipiell als Anleitung zur Rekonstruktion der Räumlichkeiten lesbar, wurden die Transkripte für die Poster indes so bearbeitet – Massangaben beispielsweise werden mittels grösserer Schrift hervorgehoben, erscheinen aber analog zum Werktitel ausgeschrieben –, dass die Lesbarkeit als Kriterium in den Hintergrund und Text als Material von Riedels Kunstproduktion in den Vordergrund tritt.
Eliza Lips